Fahles Licht tritt durch die schmalen Oberfenster des Sitzungsraumes im Begegnungszentrum „Club Integral“ in Berlin Friedrichshain. So wie jeden ersten Dienstag im Monat kommt die Selbsthilfegruppe auch an diesem spätsommerlichen Abend hier zusammen. Lothar Kappel, der Leiter der heutigen Gesprächsrunde, schaltet die Leuchtstoffröhren an der Decke an. Grelles Neon-Licht flackert auf und lässt die knapp 20 Sitzungsteilnehmer unterschiedlichen Alters, Glaubens und sozialen Status, kurzzeitig blinzeln. Bücherregale flankieren die hell-beigen Wände auf beiden Seiten: „Ausgeträumt“ von Charles Bukowski findet sich hier und ein paar Bücher weiter auch Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Unterhalb der Fenster stehen Bierbänke, darauf Zuckerkuchen, belegte Brötchen und zwei große Thermoskannen. Der Geruch von Filterkaffee, den Frau Kappel wie immer selbst gekocht hat, liegt in der Luft. Die meisten der hier Anwesenden kennen sich bereits aus vorangegangenen Veranstaltungen. Jetzt sitzen sie auf Metallstühlen im Halbkreis und warten darauf, dass die heutige Sitzung beginnt. Auf den ersten Blick mutet alles an wie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker. Doch schon vor der obligatorischen Vorstellungsrunde wird klar, dass es hier nicht darum geht, trocken zu werden – sondern vielmehr flüssig: „Sch-schh-schön, dass ihr alle d-dddda-da seid!“, begrüßt Lothar Kappel die zahlreich erschienenen Stotterer und setzt sich auf den letzten freien Stuhl. Die Sitzung ist eröffnet.
Angst vor Öffentlichkeit
„Seit wir sprechen können, ist jeder Satz eine einzige Qual für uns. Jeder, der hier in der Selbsthilfegruppe sitzt, weiß, dass er stottern wird, sobald er den Mund aufmacht. Und das Schlimmste: Er weiß auch, dass er es nicht verhindern kann“, berichtet Randolf W. aus Mittweida bei Chemnitz. Der sportliche, junge Mann mit den breiten Schultern ist heute Abend ebenfalls zu Gast. Nicht zum ersten Mal, denn er besuche die hiesige Stotterer-Gruppe, so oft es ihm möglich sei, erzählt er. Für ihn sind alltägliche Situationen, in denen er sprechen muss, immer mit Stress verbunden: „Man stelle sich vor, man möchte beim Bäcker ein Roggenbrötchen bestellen, kann aber partout kein Wort mit R aussprechen, ohne sich einen Knoten in Zunge und Stimmbänder zu machen. Wenn hinter einem weitere Kunden warten, dann bestellt man schnell etwas, was sich leichter aussprechen lässt, Laugenstange zum Beisspiel und geht wieder. Klingt ziemlich verrückt. Doch für Leute wie uns ist so etwas bittere Realität.“
Ist die Aussprache im Gespräch mit Freunden, Bekannten und Verwandten flüssiger, wird das Sprechen in der Öffentlichkeit für Stotterer zur größten aller Hürden. Sich mal eben nach dem Weg erkundigen, eine Zeitung am Kiosk kaufen oder aber mit dem Nachbarn über die Wetterlage plaudern – eine enorme Belastung für alle, die an einer Redeflussstörung leiden.
Was genau ist Stottern?
Stottern wird diagnostiziert, wenn gewisse sprachliche Auffälligkeiten auftreten. Störung des Redeflusses nach ICD 10 heißt das unter Medizinern. Symptome wie Wiederholungen und Dehnungen von Buchstaben, Lauten oder Silben deuten auf das sogenannte klonische Stottern hin. Werden Äußerungen durch regelrechte Blockaden und wiederholte Pausen unterbrochen, handelt es sich dagegen um tonische Stotterei. Beides führt zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Sprachflusses.
Die Ursachen hierfür können vielfältig sein. Viele Forscher gehen von einer genetischen Veranlagung aus, bei der die beiden Gehirnhälften nicht richtig miteinander kommunizieren. „Die meisten stotternden Menschen haben vermutlich eine Veranlagung zum Stottern“, bestätigt auch Martina Wiesmann, stellvertretende Vorsitzende der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V., kurz BVSS. „Dazu kommen dann auslösende und aufrechterhaltende Faktoren.“ Stottern entstehe in einer Zeit, in der sich das Kind körperlich, geistig, emotional und sprachlich am schnellsten entwickelt. Viele Einflüsse aus dem physischen, dem psychischen, dem sprachlichen und dem sozialen Bereich können bei der Entstehung eine Rolle spielen. Die Folge ist der verzweifelte Versuch der Kinder, möglichst nicht mehr vor Leuten sprechen zu müssen.
Die richtige Therapie
Randolf ist dabei ein extremer Fall. Als Kind leidet so extrem darunter, seine Worte nicht flüssig aneinanderzureihen, dass sein Selbstbewusstsein von Tag zu Tag sinkt. Nach vielen erfolglos verlaufenen Therapien hätte der inzwischen 26-jährige Medientechnik-Student beinahe nicht mehr an eine Verbesserung seiner Sprachstörung geglaubt. Bis ihn sein Weg vor einigen Jahren in die Abteilung Stottertherapie der Rheinischen Kliniken Bonn führt.
Das rote Backstein-Gebäude liegt in der Bonner Nordstadt, der Rhein ist zwei Straßenblöcke entfernt. Randolf wartet hier auf den Beginn der ersten Sitzung seiner 12-wöchigen Therapie in einem der oberen Zimmer des Klinikums. Er ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. In den kommenden Wochen muss der Oberschüler hier zahlreiche Sprechtrainings, Einzel-Interviews, Entspannungsübungen, Atemtechniken und einiges mehr bewältigen. Am Wochenende darf er dann nach Hause.
Doch jetzt steht als erstes eine Gruppensitzung auf dem Programm. An den creme-weißen Wänden des Therapieraumes hängen gerahmte Farb-Fotografien ehemaliger Kurs-Teilnehmer. Graue Lamellen-Jalousien versperren den Blick durch die Fenster nach draußen. Randolf gegenüber sitzt Sprachtherapeut Holger Prüß, der neben sich eine Digitalkamera auf einem Stativ aufgestellt hat. Sie ist auf Randolf gerichtet, dessen blaue Augen mal in Richtung Objektiv, dann wieder ruckartig zum Therapeuten springen.
Konfrontation mit der eigenen Angst
Noch weiß er nicht, was hier passieren wird. Die Unsicherheit wächst von Sekunde zu Sekunde, während seine Handflächen immer feuchter werden. Zumal er mit dem Therapeuten nicht alleine im Raum ist: 15 weitere Patienten, mehr Männer als Frauen zwischen 15 und 50 Jahren, sitzen in einem Halbkreis um ihn herum und schauen ihn regungslos an. Ruhiger wird er dadurch nicht. Im Gegenteil. Sichtlich nervös kaut er auf den Fingernägeln. Das linke Bein wippt auf und ab, sein ängstlicher Blick spricht Bände.
Randolf muss sprechen. Hier und heute. Im Bonner Therapieraum beobachtet er angespannt die kurzen Blickkontakte zwischen Holger Prüß und den anderen Patienten. „Meine Blicke gingen so schnell hin und her, dass ich selber nicht recht wusste, was ich sehe“, erinnert er sich. Der rechte Zeigefinger des StotterTherapeuten bewegt sich in Richtung Kamera, um letzte Einstellungen vorzunehmen. Dann holt Prüß kurz Luft. „Stellen Sie sich uns doch bitte einmal vor“, fordert er Randolf auf.
Da ist er wieder, der Moment, der eine panische Angstreaktion auslöst. Randolfs Körper spannt sich an. An sich ist er von Natur aus ein kräftiger Bursche. Doch jetzt scheinen seine Kräfte zu schwinden. Er zittert, seine Knie werden weich, er versucht, tief durchzuatmen. Unter seinem engen T-Shirt zeichnet sich der Schlag seines Herzens ab. Es schlägt schnell. Zu schnell für seinen Geschmack. Er ringt nach Worten, man kann ihm förmlich dabei zusehen. Doch selbst als er welche findet, kann er sie nicht aussprechen.
„Guten Tag. Mein Name ist Randolf“ – das ist es, was der junge Oberschüler am liebsten sagen würde. Doch wie alle anderen Stotterer weiß auch er schon vorher, dass er bei diesem oder jenem Wort stottern muss. Ein gängiger Trick besteht darin, die Antwort ohne solche Risiko-wörter im Kopf vorzuformulieren und die kritischen Lautfolgen nicht zu artikulieren. Wortvermeidungsstrategie heißt das unter Betroffenen. Irgendwann bildet sich ein Synonym-Lexikon, eine Art Open Thesaurus im Geiste aus: Jedes unaussprechliche Wort wird blitzschnell durch einen nahezu ähnlichen Begriff ersetzt, der flüssiger über die Lippen geht. Harte Konsonante wie R, D, K, T, P, aber auch weichere wie W, F, V oder ganz schlimm, H am Satzanfang werden gemieden. Worte werden ausgetauscht, Sätze komplett umformuliert. Alles aus Angst, die Kontrolle über seine eigene Sprache zu verlieren.
Panik, Schweigen und Verrenkungen
Manchmal gelingt nicht mal mehr der Wortaustausch. Wie bei der 28-jährigen Blondine Martina, die nur für kurze Zeit in Berlin zu Besuch ist. Normalerweise besuche sie die Selbsthilfegruppe in München, wo sie wohne, erzählt sie. Schnell merkt die Berliner Runde, dass Martina ein besonders harter Fall ist. Als sie berichtet, dass sie die Kontaktdaten für das heutige Treffen aus dem Internet habe, kommt ihr das Wort „Laptop“ in die Quere. Zumindest ist es das, von dem alle denken, dass sie es sagen will. Denn Martina zählt zu den schweigenden Stotterern, die für die Aussprache bestimmter Reizwörter eine gefühlte Ewigkeit benötigen, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Aber die Stotter-Gruppe ist erfahren genug, ihr nicht hereinzureden. Alle warten geduldig, bis sie es geschafft hat. Das ist eine Frage des Respekts.
In Bonn sucht auch Randolf im Fokus des Kameraobjektivs nach Worten. Zu allem Übel hat die Unruhe im Therapieraum weiter zugenommen. Stuhlbeine rutschen auf dem Fußboden herum, ein leichtes Gemurmel liegt in der Luft, irgendjemand lässt einen Kugelschreiber fallen. Randolf konzentriert sich auf die nun bevorstehende Situation. Er legt seine Hände auf die Knie, holt tief Luft und senkt seinen Kopf, um jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Dann beginnt er seinen Satz. Doch ohne auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben, verrenkt sich sein Unterkiefer schlagartig nach unten, verbunden mit unkontrollierten Kopfbewegungen.
Eine typische Reaktion, erklärt Professor Schade: „Stotterer reagieren auf ihre Redeflussstörung häufig mit Ankämpf- und Vermeidungsverhalten.“ Als Ausdruck der Anstrengung, die sie beim Herausbringen von Wörtern empfinden, werde ihre Sprache beispielsweise durch Grimassen oder Kopf- und Armbewegungen begleitet. Darüber hinaus würden Stotterer generell Situationen vermeiden, in denen sie sprechen müssen.
Zwischen Diagnose und Dunkelziffer
Martina Wiesmann nennt konkrete Zahlen: „6-10% aller Kinder stottern. Bei 80% dieser Kinder verliert sich das Stottern wieder, so dass im Erwachsenenalter noch etwa 1% Sprachschwierigkeiten haben. Und das sind in Deutschland dann etwa 800.000 Menschen, die vom Stottern betroffen sind.“ Die Dunkelziffer sei deutlich höher, doch viele Betroffene würden sich nicht offiziell „outen“, aus Angst vor gesellschaftlicher Isolation. Wie viele Stotterer es in der deutschen Hauptstadt sind, dafür gibt es keinen genauen Zahlen. Rein statistisch müssten es an die 35.000 Bürgerinnen und Bürger sein. Eine stotternde Kleinstadt mitten in Berlin.
Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beginnt Stottern in allen Fällen schon vor der Vollendung des zwölften Lebensjahres, bei Jungen sogar viermal häufiger als bei Mädchen. Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen macht sich die Störung zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr bemerkbar, bei insgesamt 90 Prozent vor dem sechsten Lebensjahr. Jedoch verlieren viele anfänglich stotternde Kinder die Störung bis zur Pubertät wieder, Mädchen sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit. Nach der Pubertät ist eine vollständige Remission, das heißt ein dauerhaftes Nachlassen der Stotter-Symptome, unwahrscheinlich bis unmöglich.
„Eltern sollten nicht überreagieren, wenn ihre Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren beim Sprechen ins Stocken geraten“, rät Professor Dr. Goetz Schade, Experte für Stimm-, Sprach-, Sprech-, Schluck- und kindliche Hörstörungen am Bonner Universitätsklinikum. Falsche Reaktionen der Umwelt würden letztendlich zu einer Verschärfung der Situation führen. Auch sei es wichtig, den Blickkontakt aufrecht zu erhalten und dem Kind die Worte, um die es ringt, nicht in den Mund zu legen.
Worte und Laute als Stolpersteine
Noch immer keine brauchbare Äußerung in Randolfs erster Therapiestunde. Doch Randolf muss sprechen, Therapeut und Gruppe erwarten seine Antwort. Nach einigen Sekunden harten Kampfes bringt er das Wort „G-ggu-guten“ unter den Blicken der Anwesenden hervor. Der eben noch deutlich hörbare Geräuschpegel im Raum ist einer gespannten Stille gewichen. Dann endlich das zweite Wort: „Tag“. Es kommt ohne größere Komplikationen aus seinem Mund. Ein Teilerfolg. Doch nun folgt das schwerste: sein Name. Dass ausgerechnet der mit R – für ihn der schwierigste aller Buchstaben – anfängt, hat Randolf schon öfter zur Verzweiflung gebracht. Aber wie das mit Namen eben ist: Man trägt sie ein Leben lang.
Er nimmt erneut Anlauf und bringt ein fast unverständlich klingendes „Mmmm-mein N-n-n-name ist R-rrrr-ran-d-dddd-dolf“ hervor. Keine Chance, sich auszuruhen, Prüß stellt direkt weitere Fragen. Randolf versucht es mit Nicken und Kopfschütteln, aber darauf fällt der Sprechtherapeut nicht herein. Er weiß nur allzu gut, mit welchen Tricks Stotterer versuchen, schwierige Situationen zu vermeiden: Schließlich ist er selbst einer.
„Als Kind bin ich – wie andere stotternde Kinder auch – recht offen und unbekümmert mit meinem Stottern umgegangen“, offenbart Prüß. Hört man dem Mann mit der sanften Bassstimme zu, findet man keine bewussten Anzeichen einer sprachlichen Behinderung. Und doch hat er sie noch heute, kann sie aber gezielt kontrollieren. „Mit zunehmendem Alter begann ich mich jedoch dafür immer mehr für mein Stottern schämen. So entwickelte ich verstärkt Strategien, es zu verstecken.“
Vom Therapierten zum Therapeuten
Nur der Ermutigung seiner Eltern hat er es zu verdanken, dass er sich im Alter von 19 Jahren zu einer mehrmonatigen stationären Therapie entschloss. Der damals zuständige Therapeut hatte eine klare Auffassung vom Stottern: Aussagen wie “Stottern ist Körperverletzung” oder “Stottern ist wie Mundgeruch” standen in riesigen Buchstaben an der Wand im Therapieraum geschrieben. Somit war das Therapieziel eindeutig: Nicht mehr stottern!
„Und tatsächlich: Die Therapie half mir, ohne großen persönlichen Einsatz sehr flüssig zu werden“, erinnert sich Prüß. „Es war ein wunderbares Gefühl. Ich genoss die neu-gewonnene Sicherheit und die traumhafte Erfahrung, ohne Einschränkungen sprechen zu können.“ So steht sein Berufsziel schnell fest: Sprachheilpädagogik studieren und dann Stotter-Therapeut werden. In allen Bereichen – ob in seinem neuen Freundeskreis, an der Universität oder gegenüber den stotternden Patienten in seiner ambulanten Sprachheilpraxis – stellt er sich fortan als ehemaliger Stotterer vor, als einer, der es bereits geschafft hat.
Bonner Sprachtherapie nach Holger Prüß
Randolf würde auch zu gerne einen Satz ohne Probleme sprechen. Aber Holger Prüß stellt Fragen über Fragen. Die anderen Sprachpatienten hier im Raum wissen, wie es sich anfüllt, hilflos nach Worten zu ringen, die man eh nicht aussprechen kann. Randolfs Kopf ist vor lauter Scham feuerrot angelaufen. Völlig überfordert mit der Situation, bekommt er keinen Ton mehr heraus. Schließlich kann er die Tränen nicht länger zurückhalten. „Diese Befragung ist das absolut Schlimmste, was ich bisher erlebt habe“, gibt Randolf offen zu. „Den Fragen, die mir gestellt wurden, konnte ich einfach nicht ausweichen. Ich fühlte mich wie innerlich vernichtet. Und doch hatte ich zugleich das verwirrende Gefühl, mein Stottern – und damit mich – nicht länger verstecken zu müssen.“
Die Sprachtherapie nach Holger Prüß stellt eine absolute Ausnahme zu allen anderen Methoden des kontrollierten Stotterns dar. „Natürlich blieb meine berufliche Arbeit von meiner eigenen Auseinandersetzung nicht unbeeinflusst, vielmehr veränderte ich in dieser Zeit grundlegend die Bonner Stottertherapie und entwickelte sie weiter“, berichtet der Sprachtherapeut nicht ohne Stolz. Im gleichen Rahmen, in dem er sich selbst mit Inhalten wie Identifikation, vorzeitiger Symptomwahrnehmung, Modifikations- und Sprechtechniken auseinander gesetzt habe, hätten diese Punkte auch Eingang in die Konzeption gefunden. Der entscheidende Unterschied: Vor Therapiebeginn und als Therapievoraussetzung werden die psychische Stabilität und das Sprechmuster des Stotterpatienten analysiert. Erst dann wird er zum Zweck der direkten Konfrontation gezielt verschiedenen Drucksituationen ausgesetzt. Dabei werden die von Prüß entwickelten Techniken “Stotterkontrolle” und “Bewusstes Sprechen” in der Form eingesetzt, dass sie eine Einsicht des Patienten in seine Situation von innen heraus erzeugen. Das erst macht es Stotterern und Therapeuten möglich, das unheilbare Stottern mit Hilfe speziell trainierter Sprechtechniken zu kontrollieren.
Diese Methoden ermöglichen es Randolf heute, frei und flüssig zu sprechen. In jahrelanger Arbeit hat er eine bestimmte Sprachtechnik gelernt, die für ihn längst zu einem Automatismus geworden ist. Er beherrscht sie mittlerweile sogar so virtuos, dass er seine Geschichte regelmäßig vor Publikum im großen Plenarsaal der Technischen Universität vorträgt. Letzten Monat war er zudem zu Gast in der RBB-Talkshow ZIBB „Talk am Lagerfeuer in der ZIBB Sommernacht“. Die Sendung wurde live im Fernsehen übertragen und ließ keinen Raum für Aussetzer und Unsicherheit – früher ein unvorstellbares Szenario. Heute ist das anders. Er versucht zwar nach wie vor, bestimmte kritische Wort-Konstruktionen zu vermeiden. Auch ist die Anspannung jedes Mal groß, wenn sich die Aufmerksamkeit allein auf ihn richtet. Und doch hat Randolf gelernt, diese Stresssituationen mittels „Fluency Shaping“, einer speziellen Technik des weichen Stimmeinsatzes, zu meistern.
Leben mit der Sprech-Störung
Wie neulich beim Vorstellungsgespräch bei einem Berliner Unternehmen, das sich eine ehemalige Fabrikhalle am Tempelhofer Ufer gemietet hat. „Zwei Menschen, die ich noch nie gesehen habe, stellten eine Frage nach der anderen“, berichtet Randolf in der Selbsthilfegruppe. „Dass das Gespräch nicht in den Räumlichkeiten, sondern im Innenhof auf Holzbänken stattfand, hat das Ganze nicht einfacher für mich gemacht.“ Hier geht es um seine berufliche Zukunft. Um einen Job mit Personalverantwortung, der keine sprachlichen Defizite oder Unregelmäßigkeiten erlaubt. Die Teilnehmer des Gruppenseminars hören aufmerksam zu, schließlich kennen sie die Angst vor Zurückweisung im Berufsleben nur all zu gut. Eigentlich sei alles gut gelaufen, fährt Randolf fort, keine größeren Aussetzer oder Blockaden. Aber ob er den Job bekomme, werde sich erst noch zeigen. Er ist leider nicht der einzige Bewerber gewesen.
Als einer der flüssigsten Redner am heutigen Abend, erhält er nun viel Zuspruch von den Anwesenden. Auch Lothar Kappel haut ihm auf die kräftigen Schultern und wünscht ihm viel Erfolg bei der Jobsuche. Dann ist die zweistündige Gesprächsrunde auch schon wieder beendet. Einige Gruppenteilnehmer werden den Club Integral in einem Monat wieder aufsuchen. Bernd weiß es noch nicht genau und Martina wird schon wieder in München sein. Aber die Gruppenleiter Lothar und Detlev kommen auf jeden Fall, auch Randolf will es versuchen. „Es sei denn, das mit dem Job klappt. Aber vielleicht kann ich mir dann ja früher freinehmen.“
Es ist 20.30 Uhr, als sich alle voneinander verabschieden und den Heimweg antreten. Draußen dämmert es bereits, die hohen Häuserfronten dunkeln die Straße zusätzlich ab. Auf dem Weg zur U-Bahn-Haltestelle Weberwiese betritt Randolf einen türkischen Spätkauf mit angrenzendem Backshop. Es duftet nach Brot und Baklava. Randolf kauft einen Sesamring, das Wort geht ihm flüssig über die Lippen. Selbst Roggenbrötchen könnte er jetzt bestellen – wenn es sein müsste. Inzwischen hat er gelernt, die Angst vor dem Stottern zu überwinden. Und nur darauf kommt es an.